Page 1 - Tragödie_Obermeiser
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Eine dörfliche Tragödie




           Das Gebäude mit der historischen Hausnummer 29 an der Holländischen Straße hat über etliche
           Jahrzehnte  hinweg  eine  Gastwirtschaft  beherbergt.  Die  ersten  Angaben  zu  den
           Besitzverhältnissen an dem Anwesen stammen aus dem Staatsarchiv Marburg. Danach stand das
           Gebäude im 19. Jahrhundert zweitweise im Eigentum des Gastwirts Karl August Gester. Noch zu
           seinen Lebzeiten wird die Gaststätte an die Familie Jäger veräußert.

           Die Familie Jäger ist erst um das Jahr 1830 nach Obermeiser gekommen. Johann Georg Jäger (1787
           – 1863), der Ahnherr dieses Familienzweigs, stammte ursprünglich aus Westuffeln und war nach
           seiner  Zeit  als  Verwalter  der  Domäne  Burghasungen  und  nach  einer  Tätigkeit  als  Müller  in
           Obermeiser sesshaft geworden. Hier pachtete er zunächst die Gaststätte und wurde später auch
           ihr Eigentümer.
           Sein Sohn Friedrich Eduard Jäger war später ebenfalls Land- und Gastwirt. Er war mit Sophie
           Jäger (1828 – 1907), geb. Schweinsberg, verheiratet, der Tochter des Obermeiserer Lehrers Konrad
           Schweinsberg. Deren gemeinsamer Sohn Heinrich Wilhelm Jäger (1859 – 1888) führte nach dem
           Tod des Vaters die Gastwirtschaft und den landwirtschaftlichen Betrieb weiter.

           Heinrich Wilhelm Jäger war mit Anna Gertrude Jäger, geb. Lind (1859 – 1884), verheiratet, die
           gebürtig aus Obervellmar stammte und Gastwirtstochter war. Aus der Ehe stammt die Tochter
           Gertrude Sophie (1884 – 1900). Anna Gertrude Jäger starb im Kindbett, einige Tage, nachdem sie
           am 05. Februar 1884 ihrer Tochter das Leben geschenkt hatte.

           Heinrich Wilhelm Jäger war im Jahre 1886 in einen tragischen Unglücksfall verwickelt. Er wurde
           in der Folge von der preußischen Staatsanwaltschaft der fahrlässigen Tötung seiner Schwägerin
           (der Schwester seiner Frau) Anna Katharina Lind beschuldigt.
          Die Geschichte, die hier zu erzählen ist, birgt viele Merkmale einer klassischen Tragödie in sich.
           Anna Katharina Lind, das Opfer des Unglücksfalls, wurde am 19.03.1867 als Tochter des Gastwirts
           Konrad Lind (Obervellmar) geboren. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie 19 Jahre und 8 Monate
           alt.

           Beim Staatsarchiv Marburg (Registernummer HStAM, Bestand 274 Kassel Nr.60) ist ein 164 Seiten
           umfassender Aktenvorgang der preußischen Staatsanwaltschaft Cassel (damals noch mit “C“
           geschrieben) hinterlegt, den wir für unsere Berichterstattung herangezogen haben. Nach einer
           Meldung  des  berittenen  Gendarmen  Jellerhäuser,  der  in  Grebenstein  stationiert  war  und  der
           11. Gendarmerie-Brigade angehörte, stellte sich der Vorfall vom 20. November 1886 wie folgt dar:

           …

              Königlicher Staatsanwaltschaft zeige ich Folgendes ganz ergebenst an: Heute Mittag gegen
             12 ½ Uhr hat der Gastwirt Heinrich Wilhelm Jäger zu Obermeiser mit seinen Hausgenossen zu

             Tisch gesessen und Kaffee getrunken, wobei auch die ungefähr 20 Jahre alte Anna Katharina
             Lind von Obervellmar sich befunden hat. (..).
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